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Montag, 8. März 2021
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Ich lese: Der Genfer Staatsrat Pierre Maudet sei wegen Vorteilsannahme gerichtlich verurteil worden. Er hat sich und seine Familie auf eine sehr teure, bezahlte Luxusreise an ein Autorennen nach Abu Dhabi einladen lassen. Er muss neben einer hohen... weiterlesen
TV: «Dunkirk» Im Frühjahr 1940 haben Hitlers Truppen Belgien, Holland und Teile Frankreichs überrannt und die übrig gebliebenen französisch-britischen Streitkräfte in einem kleinen Küstengebiet bei Dünkirchen eingekesselt. In einer einzigartigen... weiterlesen
Wer gibt mir ein neues Zuhause?
Ich heisse Maunzi, bin sechs Jahre alt und sehr lieb. Wie alle Katzen der Katzenstation in Montlingen, bin ich kastriert, geimpft, entwurmt, gechipt und Leucose getestet. Ich suche ein neues Heim mit Freigang. Ein... weiterlesen
Es war ein nasser Samstag im Februar 2020, als es nach 22 Uhr vor unserem Balkon plötzlich wahnsinnig hell wurde. Da war Blaulicht. Filmlicht. Mehrere Polizeiautos. Kameras. Gewusel. Und ein Haufen Polizisten. Ich, ganz Gafferin im Herz, machte es.. weiterlesen
Theoretisch verfügt die Schweiz über Pandemie-Erfahrung. Die Behörden agierten während der Spanischen Grippe 1918 ähnlich wie heute. Daraus könnte man lernen. weiterlesen
Zum ersten Mal seit 76 Jahren muss Altstätten die fünfte Jahreszeit abschreiben. Für den Butzenkönig und den OK-Präsidenten heisst das für einmal: Kein Stress, dafür genügend Schlaf in den kommenden Wochen. Ein Rundgang mit den Beiden zu den Hotspots der Altstätter Fasnacht, bei dem klar wird: Die Ober-Fasnächtler müssen auch ober-diplomatisch sein.
Altstätten Es ist Sonntagmorgen, der 13. Dezember 2020. Neun Wochen vorm Fasnachtssonntag. Die Kirchenuhr schlägt halb elf. Der Himmel über Altstätten spiegelt das dunkle Grau der Bahnhofstrasse wider. Nieselregen. An der Alten Post warten zwei Männer. Carlo Pinardi, graue Haare, gross gewachsen, Schnauzer. Butzenkönig und somit Vereinspräsident der Röllelibutzen. Und Alex Zenhäusern, in seiner rot-, schwarzen Röllelibutzen-Vereinsjacke, graumelierte Haare. Er ist OK-Präsident der Altstätter Fasnacht. Seit über 30 Jahren sind die beiden bei den «Butzen», und seit zehn Jahren das Team an deren Spitze. Heute ist ein schwarzer Tag in der Vereinsgeschichte. Es ist eingetroffen, was viele schon vermuteten: 2021 wird es keine Fasnacht in Altstätten geben.
Die Alte Post: Hier ist der Startpunkt für den grossen Umzug am Fasnachtssonntag. Wo sich jeweils 1500 Umzugsteilnehmerinnen und -teilnehmer tummeln und einen Kaffi Lutz an einem Stand genehmigen. Gestrichen für dieses Jahr. «Normalerweise wären wir am Fasnachtssonntag um diese Zeit am Präsidentenempfang im Restaurant Frauenhof», sagt Carlo Pinardi und lacht. Hände schütteln. Weisswein trinken. Den Stadtpräsidenten empfangen. Fasnachtsoberhäupter begrüssen. Zusammen Mittagessen. «Das ganze Wochenende ist Anspannung, dass alles reibungslos läuft. Da bleibt keine Zeit für ein Bier zwischendurch», sagt Zenhäusern. Dazu kämen die kurzen Nächte. Bis morgens um fünf ist er an der Tschätteri-Nacht unterwegs, klappert die Festzelte ab und stellt sicher, dass ja nichts schiefgeht. Wenig Schlaf also, und trotzdem führen sie am darauffolgenden Tag den Umzug mit den Röllelibutzen als erste Gruppe um 14.11 Uhr an. Pinardi und Zenhäusern passieren die Ecke Bahnhofstrasse/Städlenstrasse. Was ist die Motivation, sich so für Altstätten und seine Tradition zu engagieren? «Dass wir unsere Ideen einbringen und direkt umsetzen können. Wir können etwas bewirken. Vor allem, wenn man die Freude der Leute sieht und merkt, wir haben es richtig gemacht», sagt Pinardi. «Im Vordergrund steht die Kultur und der Wunsch, das Brauchtum zu erhalten. Sonst bist du nicht OK-Präsident oder Präsident von einem solchen Verein», ergänzt Zenhäusern. Die Beiden sind wie Tag und Nacht. Pinardi könnte ganze Bücher füllen, er gestikuliert wild und lächelt immer. Zenhäusern hingegen spricht in knappen Sätzen, fokussiert; Er ist eher der sachliche Typ. Ihn bringt so leicht nichts aus der Fassung. Sie ergänzen sich jedoch perfekt. Bereits ein Jahrzehnt arbeiten sie zusammen. Sie sind aufeinander abgestimmt. «Nach der Jubiläumsfasnacht haben Alex und ich gesagt, dass wir uns scheiden lassen müssen. Wir waren zeitweise mehr zusammen als mit unseren Frauen», schmunzelt Pinardi. Doch aus der Scheidung wird wohl nichts, denn es braucht beide Zahnräder, um das Uhrwerk der Altstätter Fasnacht am Laufen zu halten. Die Beiden wissen das aber rühmen sich nicht damit.
An der Kreuzung zur Rorschacherstrasse hält Pinardi an und zeigt mit seinem Regenschirm - in den Altstätter Farben rot, gelb und schwarz - auf die Häuser zur Linken. Einer dieser neuralgischen Punkte; einer der Hotspots, den die Beiden entschärfen mussten. «Seit einigen Jahren dürfen die Umzugsteilnehmer erst ab hier Konfetti werfen», sagt Pinardi. Zu viele Anrufe und Briefe von Anwohnerinnen und Anwohner, die sich über das viele Konfetti ärgerten, erreichten die Beiden. «Diese Diskussionen haben wir echt nicht jedes Jahr gebraucht», sagt Zenhäusern. Ärger vermeiden. Anwohner zufrieden stellen. Die beiden Sätze wurden zum Mantra, um es möglichst allen recht zu machen. Diplomatie statt Konfrontation. So kam es, dass die Fasnachtsoberhäupter schon mal Wohnungen staubsaugten, wenn Konfettikanonen in offene Wohnzimmerfenster geschossen hatten. Oder einen Blumenstrauss vorbeibrachten, wenn Fasnächtler an Haustüren pinkelten. Pinardi und Zenhäusern nennen dies Kulanz. «Unser grosses Glück ist, dass die Fasnacht in Altstätten eigentlich verstanden wird. Das hat sich in den letzten Jahren aber verändert. Leute sind hierher gezogen, denen die Tradition nicht zusagt», erklärt Zenhäusern. Doch bis jetzt haben sich die Parteien immer geeinigt, dank dem Einsatz der Beiden. Zwei Diplomaten im Dienst der Fasnacht, stets darauf bedacht auszugleichen, damit Ausgelassenheit weiterhin möglich ist. «Wir haben uns dadurch den Goodwill der Bevölkerung erarbeitet», sagt Pinardi, und stolz schwingt dabei mit. Sie gehen weiter, am Kreisel vorbei, Richtung Altstadt.
Der Eingang in die Altstadt: Das Highlight für jeden im Umzug, wie die Beiden sagen. Das Städtli, wie die Einheimischen die Altstadt auch nennen, bietet sich für einen Umzug geradezu an: Pflastersteine, enge Strassen und historischen Laubengänge, die nicht nur Schutz vor Schlechtwetter bieten, sondern Schaulustigen auch als Tribüne dienen. «Die Atmosphäre ist einfach affengeil. Wenn ich die Marktgasse betrete, bekomme ich jedes Mal Gänsehaut. Das ist Fasnacht«, sagt Pinardi. Seine Augen leuchten. Seit 40 Jahren ist er bei den Röllelibutzen, doch seine Begeisterung ist keineswegs kleiner geworden. Er erzählt, wie sich die ?Butzen» beim Locherbrunnen neben dem Rathaus ihre Wasserspritzen füllen und wie sie im Restaurant Drei Könige früher Feste gefeiert haben. «Jeder einzelne Pflasterstein der Marktgasse könnte tausende Geschichten erzählen», sagt Pinardi. Heute ist die Marktgasse leer. Im Regen sind nur wenige Menschen in der Gasse unterwegs. Hier ein «Hopp». Dort ein «Morge». Die Beiden kennt man in Altstätten.
Altstätten ohne Fasnacht ? dass ist wie Schaffhausen ohne Rheinfall oder Luzern ohne Kappelbrücke. Seit über 100 Jahren wird das Brauchtum gelebt. Es gibt vier Brauchtumsgruppen und sechs Guggenmusiken. Früher gab es nur einen Verein: Die Röllelibutzen. Farbenfrohe, prächtige Hüte, Wasserspritzen in der Hand und Geröll um den Bauch. Seit 1919, als der Verein gegründet wurde, organisieren die Mitglieder die Altstätter Fasnacht. Was mit Polonaisen und einem kleinem Umzug am Dienstag begann, etablierte sich über die Jahre als festes Datum für alle Fasnachtsbegeisterte weit über die Region hinaus. Der legendäre Tschätteri-Umzug am Samstagabend und der grosse Umzug am Fasnachtssonntag locken mehr als 20 000 BesucherInnen nach Altstätten. Vor zwei Jahren feierte der Verein sein grosses 100-Jahr-Jubiläum. Nach einer kleineren, «gesitteten» Fasnacht im letzten Jahr, wollten die Organisatoren 2021 wieder Vollgas geben. Selbst wenn daraus etwas geworden wäre: Beim Feiern müssen Zenhäusern und Pinardi eher auf der Bremse stehen. Mehr Arbeit als Vergnügen bedeutet die fünfte Jahreszeit für die Fasnachtsoberhäupter. Bis auf einen Tag: Den Fasnachtsdienstag. Befreiungsschlag nennt OK-Präsident Zenhäusern diesen. «Das ist unser heiliger Tag. Alles ist aufgeräumt, die strenge Zeit ist vorüber, ich kann mich anderen Dingen widmen und die Fasnacht vollends geniessen.» Pinardi ergänzt, drückt es diplomatisch aus: «Da kann es passieren, dass man den einen oder anderen Schluck zu viel erwischt.» Für gesundheitliche Probleme, Schnittwunden, Alkohol oder Kreislaufproblemen stehen während der ganzen Veranstaltung der Samariter, Notarzt und an den Hauptfasnachtstagen zwei Rettungswagen mit Rettungssanitäter den Besuchern zur Verfügung. «Dafür sind Gewalt und Aggressivität zurückgegangen. Da haben wir schon anderes erlebt», ergänzt Zenhäusern.
Zu viel Alkohol war wohl auch im Spiel, als eine Briefkastenanlage demoliert wurde am Haus, an dem sie soeben vorbeigehen. «Das hat uns 3000 Franken gekostet», sagt Zenhäusern. Auch hier wieder: Kulanz und diplomatisches Geschick, um es sich mit den AnwohnerInnen nicht zu verscherzen. «Dort sollte eigentlich gestiftet von den Röllelibutzen stehen», sagt Pinardi und lacht.
Die Beiden sind an der Ausgehmeile von Altstätten angekommen, der sogenannten «Rue de blamage». Der berüchtigte Strassenabschnitt, wo sich Bar an Bar reiht und während der Fasnacht der Teufel los ist. Doch die Türen der meist plump dekorierten Beizen, die mit bunten Lichtern für sich werben, sind zu. «Vorübergehend geschlossen» steht auf einem Schild vor dem Kreuz, einer der grössten Bars. Ein trister Anblick, der sich auch in der Mine der Fasnachtsoberhäupter spiegelt. Von der Euphorie und Freude, die Pinardi vorher noch ausstrahlte, ist nicht mehr viel übrig, als sich der Rundgang dem Ende nähert. Die Kälte hat sich in den vergangenen zwei Stunden in den Knochen eingenistet. Frage an die Beiden: Wie schlimm ist es für euch, dass es keine Fasnacht gibt? Die Antwort überrascht: «Dass ich traurig bin, würde ich nicht sagen», sagt der Butzenkönig. Eine Prise Wehmut schwingt aber mit, als er ergänzt: «Es tut dennoch weh. Um diese Zeit würde das ganze Programm stehen.» Zenhäusern nickt. Die beiden wirken überraschend gefasst. Sie hatten ja schon länger mit diesem Entscheid gerechnet. «Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schlichtweg nicht möglich, unsere Tradition so auszuleben, wie wir es uns gewohnt sind», sagt Pinardi. Mit seinem Schirm klopft er wie zur Untermauerung seiner Aussage mit der Spitze auf den Boden. Alternativen seien diskutiert worden, auch Schutzkonzepte, Contact Tracing und Absperrungen, um die Menschenmassen zu trennen. «Aber das ist nicht Fasnacht», sagt Zenhäusern.
Und so hoffen Butzenkönig und OK-Präsident auf den Sonntag, 27. Februar 2022. Wenn die Strassen und Gassen im Zentrum gerappelt voll sind. Wenn tausende Fasnachtsbegeisterte aus der Region in die Hochburg pilgern. Und darauf warten, dass die Zeiger der Kirchenuhr endlich auf 14.11 Uhr springen, und sich der Umzug in Gang setzt. Und Pinardi und Zenhäusern wissen: Kein Schlaf in den nächsten Tagen. Dafür wieder diplomatischer Dienst im Zeichen der Fasnacht.
Von Cassandra Wüst
Zum ersten Mal seit 76 Jahren muss Altstätten die fünfte Jahreszeit abschreiben. Für den Butzenkönig und den OK-Präsidenten heisst das für einmal: Kein Stress, dafür genügend Schlaf in den kommenden Wochen. Ein Rundgang mit den Beiden zu den Hotspots der Altstätter Fasnacht, bei dem klar wird: Die Ober-Fasnächtler müssen auch ober-diplomatisch sein.
Altstätten Es ist Sonntagmorgen, der 13. Dezember 2020. Neun Wochen vorm Fasnachtssonntag. Die Kirchenuhr schlägt halb elf. Der Himmel über Altstätten spiegelt das dunkle Grau der Bahnhofstrasse wider. Nieselregen. An der Alten Post warten zwei Männer. Carlo Pinardi, graue Haare, gross gewachsen, Schnauzer. Butzenkönig und somit Vereinspräsident der Röllelibutzen. Und Alex Zenhäusern, in seiner rot-, schwarzen Röllelibutzen-Vereinsjacke, graumelierte Haare. Er ist OK-Präsident der Altstätter Fasnacht. Seit über 30 Jahren sind die beiden bei den «Butzen», und seit zehn Jahren das Team an deren Spitze. Heute ist ein schwarzer Tag in der Vereinsgeschichte. Es ist eingetroffen, was viele schon vermuteten: 2021 wird es keine Fasnacht in Altstätten geben.
Die Alte Post: Hier ist der Startpunkt für den grossen Umzug am Fasnachtssonntag. Wo sich jeweils 1500 Umzugsteilnehmerinnen und -teilnehmer tummeln und einen Kaffi Lutz an einem Stand genehmigen. Gestrichen für dieses Jahr. «Normalerweise wären wir am Fasnachtssonntag um diese Zeit am Präsidentenempfang im Restaurant Frauenhof», sagt Carlo Pinardi und lacht. Hände schütteln. Weisswein trinken. Den Stadtpräsidenten empfangen. Fasnachtsoberhäupter begrüssen. Zusammen Mittagessen. «Das ganze Wochenende ist Anspannung, dass alles reibungslos läuft. Da bleibt keine Zeit für ein Bier zwischendurch», sagt Zenhäusern. Dazu kämen die kurzen Nächte. Bis morgens um fünf ist er an der Tschätteri-Nacht unterwegs, klappert die Festzelte ab und stellt sicher, dass ja nichts schiefgeht. Wenig Schlaf also, und trotzdem führen sie am darauffolgenden Tag den Umzug mit den Röllelibutzen als erste Gruppe um 14.11 Uhr an. Pinardi und Zenhäusern passieren die Ecke Bahnhofstrasse/Städlenstrasse. Was ist die Motivation, sich so für Altstätten und seine Tradition zu engagieren? «Dass wir unsere Ideen einbringen und direkt umsetzen können. Wir können etwas bewirken. Vor allem, wenn man die Freude der Leute sieht und merkt, wir haben es richtig gemacht», sagt Pinardi. «Im Vordergrund steht die Kultur und der Wunsch, das Brauchtum zu erhalten. Sonst bist du nicht OK-Präsident oder Präsident von einem solchen Verein», ergänzt Zenhäusern. Die Beiden sind wie Tag und Nacht. Pinardi könnte ganze Bücher füllen, er gestikuliert wild und lächelt immer. Zenhäusern hingegen spricht in knappen Sätzen, fokussiert; Er ist eher der sachliche Typ. Ihn bringt so leicht nichts aus der Fassung. Sie ergänzen sich jedoch perfekt. Bereits ein Jahrzehnt arbeiten sie zusammen. Sie sind aufeinander abgestimmt. «Nach der Jubiläumsfasnacht haben Alex und ich gesagt, dass wir uns scheiden lassen müssen. Wir waren zeitweise mehr zusammen als mit unseren Frauen», schmunzelt Pinardi. Doch aus der Scheidung wird wohl nichts, denn es braucht beide Zahnräder, um das Uhrwerk der Altstätter Fasnacht am Laufen zu halten. Die Beiden wissen das aber rühmen sich nicht damit.
An der Kreuzung zur Rorschacherstrasse hält Pinardi an und zeigt mit seinem Regenschirm - in den Altstätter Farben rot, gelb und schwarz - auf die Häuser zur Linken. Einer dieser neuralgischen Punkte; einer der Hotspots, den die Beiden entschärfen mussten. «Seit einigen Jahren dürfen die Umzugsteilnehmer erst ab hier Konfetti werfen», sagt Pinardi. Zu viele Anrufe und Briefe von Anwohnerinnen und Anwohner, die sich über das viele Konfetti ärgerten, erreichten die Beiden. «Diese Diskussionen haben wir echt nicht jedes Jahr gebraucht», sagt Zenhäusern. Ärger vermeiden. Anwohner zufrieden stellen. Die beiden Sätze wurden zum Mantra, um es möglichst allen recht zu machen. Diplomatie statt Konfrontation. So kam es, dass die Fasnachtsoberhäupter schon mal Wohnungen staubsaugten, wenn Konfettikanonen in offene Wohnzimmerfenster geschossen hatten. Oder einen Blumenstrauss vorbeibrachten, wenn Fasnächtler an Haustüren pinkelten. Pinardi und Zenhäusern nennen dies Kulanz. «Unser grosses Glück ist, dass die Fasnacht in Altstätten eigentlich verstanden wird. Das hat sich in den letzten Jahren aber verändert. Leute sind hierher gezogen, denen die Tradition nicht zusagt», erklärt Zenhäusern. Doch bis jetzt haben sich die Parteien immer geeinigt, dank dem Einsatz der Beiden. Zwei Diplomaten im Dienst der Fasnacht, stets darauf bedacht auszugleichen, damit Ausgelassenheit weiterhin möglich ist. «Wir haben uns dadurch den Goodwill der Bevölkerung erarbeitet», sagt Pinardi, und stolz schwingt dabei mit. Sie gehen weiter, am Kreisel vorbei, Richtung Altstadt.
Der Eingang in die Altstadt: Das Highlight für jeden im Umzug, wie die Beiden sagen. Das Städtli, wie die Einheimischen die Altstadt auch nennen, bietet sich für einen Umzug geradezu an: Pflastersteine, enge Strassen und historischen Laubengänge, die nicht nur Schutz vor Schlechtwetter bieten, sondern Schaulustigen auch als Tribüne dienen. «Die Atmosphäre ist einfach affengeil. Wenn ich die Marktgasse betrete, bekomme ich jedes Mal Gänsehaut. Das ist Fasnacht«, sagt Pinardi. Seine Augen leuchten. Seit 40 Jahren ist er bei den Röllelibutzen, doch seine Begeisterung ist keineswegs kleiner geworden. Er erzählt, wie sich die ?Butzen» beim Locherbrunnen neben dem Rathaus ihre Wasserspritzen füllen und wie sie im Restaurant Drei Könige früher Feste gefeiert haben. «Jeder einzelne Pflasterstein der Marktgasse könnte tausende Geschichten erzählen», sagt Pinardi. Heute ist die Marktgasse leer. Im Regen sind nur wenige Menschen in der Gasse unterwegs. Hier ein «Hopp». Dort ein «Morge». Die Beiden kennt man in Altstätten.
Altstätten ohne Fasnacht ? dass ist wie Schaffhausen ohne Rheinfall oder Luzern ohne Kappelbrücke. Seit über 100 Jahren wird das Brauchtum gelebt. Es gibt vier Brauchtumsgruppen und sechs Guggenmusiken. Früher gab es nur einen Verein: Die Röllelibutzen. Farbenfrohe, prächtige Hüte, Wasserspritzen in der Hand und Geröll um den Bauch. Seit 1919, als der Verein gegründet wurde, organisieren die Mitglieder die Altstätter Fasnacht. Was mit Polonaisen und einem kleinem Umzug am Dienstag begann, etablierte sich über die Jahre als festes Datum für alle Fasnachtsbegeisterte weit über die Region hinaus. Der legendäre Tschätteri-Umzug am Samstagabend und der grosse Umzug am Fasnachtssonntag locken mehr als 20 000 BesucherInnen nach Altstätten. Vor zwei Jahren feierte der Verein sein grosses 100-Jahr-Jubiläum. Nach einer kleineren, «gesitteten» Fasnacht im letzten Jahr, wollten die Organisatoren 2021 wieder Vollgas geben. Selbst wenn daraus etwas geworden wäre: Beim Feiern müssen Zenhäusern und Pinardi eher auf der Bremse stehen. Mehr Arbeit als Vergnügen bedeutet die fünfte Jahreszeit für die Fasnachtsoberhäupter. Bis auf einen Tag: Den Fasnachtsdienstag. Befreiungsschlag nennt OK-Präsident Zenhäusern diesen. «Das ist unser heiliger Tag. Alles ist aufgeräumt, die strenge Zeit ist vorüber, ich kann mich anderen Dingen widmen und die Fasnacht vollends geniessen.» Pinardi ergänzt, drückt es diplomatisch aus: «Da kann es passieren, dass man den einen oder anderen Schluck zu viel erwischt.» Für gesundheitliche Probleme, Schnittwunden, Alkohol oder Kreislaufproblemen stehen während der ganzen Veranstaltung der Samariter, Notarzt und an den Hauptfasnachtstagen zwei Rettungswagen mit Rettungssanitäter den Besuchern zur Verfügung. «Dafür sind Gewalt und Aggressivität zurückgegangen. Da haben wir schon anderes erlebt», ergänzt Zenhäusern.
Zu viel Alkohol war wohl auch im Spiel, als eine Briefkastenanlage demoliert wurde am Haus, an dem sie soeben vorbeigehen. «Das hat uns 3000 Franken gekostet», sagt Zenhäusern. Auch hier wieder: Kulanz und diplomatisches Geschick, um es sich mit den AnwohnerInnen nicht zu verscherzen. «Dort sollte eigentlich gestiftet von den Röllelibutzen stehen», sagt Pinardi und lacht.
Die Beiden sind an der Ausgehmeile von Altstätten angekommen, der sogenannten «Rue de blamage». Der berüchtigte Strassenabschnitt, wo sich Bar an Bar reiht und während der Fasnacht der Teufel los ist. Doch die Türen der meist plump dekorierten Beizen, die mit bunten Lichtern für sich werben, sind zu. «Vorübergehend geschlossen» steht auf einem Schild vor dem Kreuz, einer der grössten Bars. Ein trister Anblick, der sich auch in der Mine der Fasnachtsoberhäupter spiegelt. Von der Euphorie und Freude, die Pinardi vorher noch ausstrahlte, ist nicht mehr viel übrig, als sich der Rundgang dem Ende nähert. Die Kälte hat sich in den vergangenen zwei Stunden in den Knochen eingenistet. Frage an die Beiden: Wie schlimm ist es für euch, dass es keine Fasnacht gibt? Die Antwort überrascht: «Dass ich traurig bin, würde ich nicht sagen», sagt der Butzenkönig. Eine Prise Wehmut schwingt aber mit, als er ergänzt: «Es tut dennoch weh. Um diese Zeit würde das ganze Programm stehen.» Zenhäusern nickt. Die beiden wirken überraschend gefasst. Sie hatten ja schon länger mit diesem Entscheid gerechnet. «Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schlichtweg nicht möglich, unsere Tradition so auszuleben, wie wir es uns gewohnt sind», sagt Pinardi. Mit seinem Schirm klopft er wie zur Untermauerung seiner Aussage mit der Spitze auf den Boden. Alternativen seien diskutiert worden, auch Schutzkonzepte, Contact Tracing und Absperrungen, um die Menschenmassen zu trennen. «Aber das ist nicht Fasnacht», sagt Zenhäusern.
Und so hoffen Butzenkönig und OK-Präsident auf den Sonntag, 27. Februar 2022. Wenn die Strassen und Gassen im Zentrum gerappelt voll sind. Wenn tausende Fasnachtsbegeisterte aus der Region in die Hochburg pilgern. Und darauf warten, dass die Zeiger der Kirchenuhr endlich auf 14.11 Uhr springen, und sich der Umzug in Gang setzt. Und Pinardi und Zenhäusern wissen: Kein Schlaf in den nächsten Tagen. Dafür wieder diplomatischer Dienst im Zeichen der Fasnacht.
Von Cassandra Wüst
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